....oder: "Kann man klinisches Denken lernen" ?
Beim Schmökern in englischsprachiger Fachliteratur fällt immer wieder auf, dass Wert darauf gelegt wird neben medizinischem Fachwissen auch die Fähigkeit zum klinischen Denken zu vermitteln. Hierfür nutzen die Kollegen im angloamerikanischen Raum häufig „Denkwerkzeuge“, die nicht selten aus Wissenschaften wie der Mathematik, der Statistik, der kognitiven Psychologie oder gar der Philosophie entliehen werden und dem Anwender beim klinischen Entscheidungsprozess helfen sollen.
So geht beispielsweise das „Oxford Handbook of Clinical Medicine“, der Klassiker unter den Klinikleitfäden, ausführlich auf die Odds ratio ein. Ein anderes Tool, das ebenfalls immer wieder Erwähnung findet, ist „Ockhams Rasierklinge“.
Dieses imaginäre Messer wird eingesetzt, wenn man sich zwischen zwei Theorien zur Erklärung eines bestimmten Sachverhaltes entscheiden muss.
Am einfachsten lässt sich dieses Werkzeug (Rasiermesser des Ockham) an einem Beispiel erklären:
Wenn ich mich in unserem Arztzimmer in der ZNA umsehe, entdecke ich einen Computer, einen Stuhl und einen Schreibtisch, auf dem meine Tüte Chips liegt.
Theorie Nummer 1 kann also sein, dass sich in unserem Arztzimmer ein Computer, ein Stuhl und ein Schreibtisch (mit besagter Chipstüte) befinden.
Theorie Nummer 2 könnte aber postulieren, dass in besagtem Raum neben PC, Stuhl und Schreibtisch fünf Marsmenschen zu finden sind, die jedoch unsichtbar und völlig geruchs- und geräuschlos ihr Dasein fristen.
Möchte ich mich nun für eine der beiden Theorien entscheiden, um zu klären, was sich tatsächlich in unserem Artzimmer befindet, helfen mir meine zur Verfügung stehenden Messinstrumente (nämlich Augen, Ohren und Nase) bei der oben beschriebenen Beschaffenheit der Aliens nur bedingt weiter.
Jetzt kommt Ockhams Rasiermesser zum Einsatz und schließt die Theorie aus, für die mehr Grundannahmen erfüllt sein müssen. Dieser philosophische Ansatz besagt, dass die einfachste Erklärung für eine Theorie oder Grundannahme die bessere Erklärung ist. Also, nicht über tausend verstrickte Ecken denken, sondern den direktesten Weg für eine Erklärung wählen.
In diesem Fall handelt es sich eindeutig um Theorie Nummer 2, die für ihre Gültigkeit die Existenz von Leben auf dem Mars voraussetzen würde. Dieses muss dann zusätzlich noch so hoch entwickelt sein, dass es die Reise zu unserem Planeten antreten kann, nur um anschließend in unser (deutlich weniger entwickeltes) Arztzimmer einzuziehen. Theorie Nummer 1 ist also der Gewinner. (Andererseits würde Theorie Nummer 2 jedoch erklären, weshalb meine Chipstüte ständig leer ist…)
Im klinischen Alltag in ZNA und ICU müssen wir ständig zeitkritische Entscheidung bei unvollständiger Informationslage treffen. „The right decision, right now“ ist im Bereich der Akutmedizin das tägliche Brot des Klinikers, was ja auch letztendlich den Reiz dieses Betätigungsfeldes ausmacht.
Alte Hasen können in solchen Situationen auf ihren Erfahrungsschatz zurückgreifen, Anfänger und Lernende müssen für sich andere Wege finden schnell und sicher die richtige Entscheidung zu treffen. Ob klinisches Denken eine erlernbare Fähigkeit (also ein Skill wie das Intubieren oder das Legen von ZVKs etc.) ist und somit auch den „young emergency physicians“ zu Verfügung stehen kann, ist die Gretchen Frage in unserer Ausbildung. Inwiefern Denkwerkzeuge wie die Odds Ratio oder Ockhams Rasierklinge dabei eine Rolle spielen können, ist ein weiteres interessantes Thema.
Welche Erfahrungen habt ihr diesbezüglich gemacht? Ist klinisches Denken eine Frage der Erfahrung und damit nicht lern- und unterrichtbar, oder gibt Abkürzungen in diesem Prozess, vielleicht durch den Einsatz besagter Tools…
Der exzellente Beitrag von Jan Welker thematisiert, was wir berücksichtigen sollten, wenn wir die "Medizin" erklären und an unsere jungen Kollegen weitergeben, neudeutsch auch "Medical Education". Und hier scheinen die angelsächsischen Länder tatsächlich innovativere Wege zu gehen.
AntwortenLöschenEs mag zunächst abwegig klingen und etwas abstrus sein, sich darüber Gedanken zu machen. Auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit "kognitiver Psychologie" bzw. dem "clinical reasoning" extrem wichtig ist, um die wenige Zeit, die wir haben, möglichst effektiv zu gestalten. Wie viele Irrwege bin ich in der Fort- und Weiterbildung gegangen? Klar, man kann sagen, dass es sich um wertvolle Erfahrungen "fürs Leben" handelt ... aber wäre es nicht auch effektiver gegangen, ohne die vielen Umwege und Frustrationen?
Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auf ein exzellentes Buch "Learning Clinical Reasoning" von Jerome Kassirer (ehemaliger Editor des NEJM). Kann im Buchhandel oder bei Amazon erworben werden. Lohnt sich und bietet viele hervorragende klinische Beispiele, die das klinische Denken nachhaltig unterstützen. Habe daraus viel Information gewonnen und versuche dies in unseren Fortbildungen einzubauen.
Nochmals danke für den schönen Beitrag von J. Welker.